Gedicht der Woche

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Prana
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Gedicht der Woche

Beitrag von Prana » 27 Mai 2006, 12:55

Habe gerade ein Gedicht gelesen und dachte: Das ist so schoen und verdient einfach mal, hier "Gedicht der Woche" zu werden.

Es ist von James Kruess


Gedicht fuer jeden Tag im Jahr


Jeder wuenscht sich jeden Morgen
Irgendetwas – je nachdem.
Jeder hat seit jeher Sorgen,
jeder jeweils sein Problem.

Jeder jagt nicht jede Beute.
Jeder tut nicht jede Pflicht.
Jemand freut sich jetzt und heute.
Jemand anders freut sich nicht.

Jemand lebt von seiner Feder.
Jemand anders lebt als Dieb.
Jedenfalls hat aber jeder
Jeweils irgendjemand lieb.

Jeder Garten ist nicht Eden,
Jedes Glas ist nicht voll Wein.
Jeder aber kann fuer jeden
Jederzeit ein Engel sein.

Ja, je lieber und je laenger
Jeder jedem jederzeit
Jedes Glueck wuenscht, umso enger
Leben wir in Einigkeit.

Annina

Beitrag von Annina » 27 Mai 2006, 13:06

Schoen ich freue mich immer wieder dass wir hier die Sparte und Dich haben, so ein Gedicht zwischendrin, sei es lustig oder nachdenklich ist genau das richtige.

Bietie

Beitrag von Bietie » 27 Mai 2006, 13:10

Find ich auch ne prima Idee, danke Holli!!

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Pfingstgedicht

Beitrag von Prana » 03 Jun 2006, 09:52

Passend zum bevorstehenden Pfingstwochenende mal ein kleines Pfingstgedicht von Joachim Ringelnatz:

Pfingstbestellung

Ein Pfingstgedichtchen will heraus
ins Freie, ins Kuehne.
So treibt es mich aus meinem Haus
ins Neue, ins Gruene.

Wenn sich der Himmel grau bezieht,
mich stoert´s nicht im geringsten.
Wer meine weisse Hose sieht,
der merkt doch: Es ist Pfingsten.

Nun hab ich ein Gedicht gedrueckt,
wie Huehner Eier legen,
und gehe festlich und geschmueckt -
Pfingstochse meinetwegen -
dem Honorar entgegen

Bietie

Beitrag von Bietie » 03 Jun 2006, 11:35

hihi, ich mag menschen, die sich selbst auf die schippe nehmen koennen ;)

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Beitrag von Prana » 14 Jun 2006, 19:53

Passend zu meiner Stimmung (bin immer noch am Kraenkeln) habe ich ein etwas nachdenkliches, trauriges Gedicht von Kurt Tucholsky rausgesucht und zum Gedicht der Woche erklaert.

Tucholsky wurde 1890 in Berlin geboren und er veruebte 1935 Selbstmord in Hindas (Schweden). Er war vor allem Satiriker, der als Pazifist jeden Nationalismus ablehnte.
Eines seiner bekanntesten Werke war "Schloss Gripsholm"



Augen in der Grossstadt


Wenn du zur Arbeit gehst
am fruehen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
was war das? Vielleicht dein Lebensglueck…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Strassen;
du siehst auf deinen Gang,
die dich vergassen,
ein Auge winkt,
die Seele klingt,
du hast´s gefunden,
nur fuer Sekunden…
zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurueck…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du musst auf deinem Gang
durch Staedte wandern,
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinueber
und zieht vorueber…
zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der grossen Menschheit ein Stueck!
Vorbei, verweht, nie wieder.

prinzi78

Beitrag von prinzi78 » 14 Jun 2006, 22:50

das is sehr schoen holli! danke schoen!

Dagmar

Danke Holli

Beitrag von Dagmar » 15 Jun 2006, 06:53

fuer die besinnlichen Worte.

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Beitrag von Prana » 27 Jun 2006, 18:28

Mal ein paar Zeilen zum Nachdenken von Lore Jochens-Kaehler




Der Mensch hat keine Zeit

Er hat keine Zeit, seinem Kind zu erklaeren,
warum es dieses und jenes gibt.

Er hat keine Zeit, seinem Partner zu sagen,
wie sehr er ihn braucht und liebt.

Er hat keine Zeit, sich um Freunde zu kuemmern,
das koennte nur eigene Probleme verschlimmern.

Er hat keine Zeit, mit seinen Nachbarn zu sprechen,
vielleicht nur manchmal mit Freunden zu zechen.

Er hat keine Zeit, Sorgen von anderen anzuhoeren,
das koennte ihn nur in seiner Eile stoeren.

Er hat keine Zeit, muss viel arbeiten gehen,
keine Zeit, die Schoenheit der Natur zu sehen.

Er hat keine Zeit, muss viel Geld anschaffen,
fuer sich, seine Familie, fuer das Sparkonto zu raffen.

Er hat keine Zeit, zu sich selber zu finden,
vielleicht den Sinn des Lebens zu ergruenden.

Er hat keine Zeit zum Reden und Denken,
sitzt lieber vorm Fernsehgeraet, um sich abzulenken.

Er hat keine Zeit, denn bald stirbt er schon.
Nun hat er viel Zeit – doch was hat er davon?

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Beitrag von Prana » 01 Jul 2006, 13:14

Okay, Ihr habe es nicht anders gewollt, hier kommt eine kleine Herausforderung, wobei die, die sich etwas mit platt oder niederlaendisch auskennen, klar im Vorteil sind.
Bin gespannt, wer auf Anhieb alles versteht, selbst ich (kann besser plattdeutsch sprechen als hochdeutsch), musste einige Saetze 2mal lesen, bis ich sie verstanden habe.
Am Ende des Gedichts uebersetze ich noch 2 oder 3 Woerter, die wirklich sehr schwer sind.




Dar was ins mal en Olske


Dar was ins mal en Olske, de funn en holten Daler.
Dar gung se mit na de Markt hen,
un se koefde der en Bigge foer.
Man de Bigge wull neet na Hus hen gahn,
of se muss hum al na Hus hen dragen!
Da gung dat Olske na de Hund hen un sae:
"Hund, Hund, wullt du de Bigge bieten?
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!” sae de Hund.

Do gung dat Olske na de Stock hen:
"Stock, Stock, wullt du de Hund hauen?
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!” sae de Stock.

Do gung dat Olske na dat Fueer hen:
"Fueer, Fueer, wullt du de Stock brannen?
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!" sae dat Fueer.

Do gung dat Olske na dat Water hen:
"Water, Water, wullt du dat Fueer utmaken?
Fueer will kein Stock brannen,
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!" sae dat Water.

Do gung dat Olske na de Osse hen:
"Osse, Osse, wullt dud at Water drinken?
Water will kein Fueer utmaken,
Fueer will kein Stock brannen,
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!" sae de Osse.

Do gung dat Olske na dat Tau hen:
"Tau, Tau, wullt du de Osse binnen?
Osse will kien Water drinken,
Water will kein Fueer utmaken,
Fueer will kein Stock brannen,
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!" sae dat Tau.

Do gung dat Olske na de Mus hen:
"Mus, Mus, wullt du dat Tau doernagen?
Tau will kein Osse binnen,
Osse will kien Water drinken,
Water will kein Fueer utmaken,
Fueer will kein Stock brannen,
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Nee!" sae de Mus.

Do gung dat Olske na de Katte hen:
"Katte, Katte, wullt du de Mus fangen?
Mus will kien Tau doernagen,
Tau will kein Osse binnen,
Osse will kien Water drinken,
Water will kein Fueer utmaken,
Fueer will kein Stock brannen,
Stock will kien Hund hauen,
Hund will kien Bigge bieten,
Bigge will neet na Hus hen gahn,
of ik mut hum al na Hus hen dragen!”
"Ja!" dae de Katte.

Un de Katte achter de Mus an,
un de Mus achter dat Tau,
un dat Tau achter de Osse,
un de Osse achter dat Water,
un dat Water achter dat Fueer,
un dat Fueer achter de Stock,
un de Stock achter de Hund
un de Hund achter de Bigge an,
un "Hup, hup, ho!"
de Bigge was int Stroh!



von Tjeerd Bottema (uebersetzt ins Ostfriesische von Wilhelmine Siefkes)



Hier, wie versprochen die Uebersetzungen:
Bigge heisst Ferkel
Olske heisst alte Frau

wer noch mehr Woerter uebersetzt haben moechte, melde sich bitte

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