Ach ja, den Text habe ich aus einer Zeitschrift, der "Freundin"...
Anything goes –alles ist möglich und völlig okay. Minirock tragen oder Hippie Gewand, Vollzeitmutter oder Karrierefrau sein, sich vegan ernähren oder nach dem South Beach Prinzip, im Urlaub durch die Alpen trekken oder auf den Malediven abhängen. Meist werden sie ja als große Freiheit gepriesen, die Errungenschaften der multioptionalen Gesellschaft. Und klar ist es toll, dass wir aus einer Fülle von Angeboten auswählen können, egal, ob es um die Zahnpastamarke oder das Beziehungsmodell geht. Andererseits ist es eine große Qual, sich immer und dauernd entscheiden zu müssen, denn hinter jedem „Ich will...“ steht ja auch ein Statement: Bio oder billig, klassisch oder flippig, mit Menthol oder mit Erdbeergeschmack?
Entscheidungen kosten unendlich viel Zeit, blockieren das Gehirn und stehen unserem Glück im Weg. Denn oft fragt man sich hinterher: War das ein Fehler? Hätte es nicht etwas besseres gegeben?
Kürzlich las ich in einem amerikanischen Magazin von der 10-10-10-Strategie der Business Expertin Suzy, die die Qual der Wahl erleichtern soll. 10-10-10 ist ganz einfach. Wenn man in einem Dilemma steckt, soll man sich folgende drei Fragen stellen: Welche Konsequenzen hat meine Entscheidung in 10 Minuten, in 10 Monaten und in 10 Jahren?
Ich habe es sofort ausprobiert und auch gleich an einer Entscheidung, die es in sich hatte. Eine sehr gute Freundin bat mich, Patentante ihres zweiten Kindes zu werden. Ich hatte dazu –wie immer- eine verwirrende Vielfalt von Gefühlen und Gedanken. Ich fühlte mich geehrt. Gestresst. In die Pflicht genommen. Beglückt. Dachte: „Ich habe doch schon ein Patenkind.“, „Wie toll, das sie mich will“, „ Ich kann mit Babys nichts anfangen.“ Mein Gefühl sagte ziemlich deutlich Nein, mein Kopf: Natürlich machst du das. Bevor der Streit zwischen diesen beiden Instanzen losbrechen konnte, spielte ich alles nach der 10-10-10- Regel durch. Wie würde ich mich 10 Minuten nach meiner Absage des Patenjobs fühlen? Schrecklich. Wie eine schlechte Freundin. Eine Frau, die sich unnatürlicherweise nicht für kleine Kinder begeistert. Dann stellte ich mir vor, wie ich 10 Monate später bei meiner Freundin zu Besuch wäre und wir uns unterhielten, während die Kleine auf dem Boden herumrobbte. Die Atmosphäre zwischen uns wäre etwas angespannt. Anscheinend ist sei immer noch ein bisschen enttäuscht, und ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen. Andererseits überlege ich, wie ich ganz ohne Druck versuchen könnte, ob ich und das Kind einen Draht zueinander finden. Nach 10 Jahren sehe ich mich, wie ich mit dem Mädchen im Kino sitze, "Plötzlich Prinzessin VII“ ansehe, Popcorn esse und es gar keine Rolle spielt, ob ich ihre Patentante bin oder nicht. Und das war eine schöne Überraschung für mich. Das Fazit dieses Gedankenspiels war, das ich ganz offensichtlich dem Thema etwas verkrampft gegenüberstehe, Angst habe, meine Freundin zu kränken, und mich anschließend deutlich wohler fühle, wenn nicht das Siegel „Patentante“ auf meiner Stirn prangt.
Und genauso habe ich es dann meiner Freundin erklärt. Ohne die 10-10-10- Strategie wäre ich wahrscheinlich auch an diesen Punkt gekommen, aber es hätte mich wesentlich mehr Nerven und Energie gekostet. Vor allem hätte ich ohne die 10-Jahres-Perspektive vor mir selbst nicht gut dagestanden.
Meine Freundin fand es sehr schade, hat sich aber gefreut, das ich so ehrlich zu ihr bin. Und sie hat spitze Ohren bekommen, als ich ihr von der 10-10-10-Methode erzählt habe. Denn sie hat selbst gerade eine Entscheidung am Kochen, nämlich die, ob sie ihren Halbtagsjob kündigen soll. „ Ich weiß gar nicht, wie das werden soll, wenn die Kleine dann da ist. Mit zwei Kindern, dem Haushalt und der Arbeit. Nach dem Mutterschutz soll ich ja möglichst bald wieder einsteigen. Will ich ja auch, aber ich weiß nicht, wie“, erzählt sie mir.
Wir gehen die verschiedenen Optionen durch. Die Vorstellung, ins Büro zu marschieren und zu sagen: „Ich habe beschlossen, aufzuhören“, löst bei ihr ein Gefühl der Erleichterung aus. „In den ersten 10 Minuten danach“ sagt sie, „ würde ich mich in die Sonne setzen und einfach nichts tun. Herrlich!“ 10 Monate später sieht sie sich, wie sie ihren Sohn zur Krippe bringt, ohne hetzen zu müssen, wie sie sich in Ruhe um das Baby kümmern kann, wie sie am Wochenende Ausflüge mit ihrem Mann und ihren Kindern macht, anstatt Liegengebliebenes nachzuarbeiten und dabei noch ein schlechtes Gewissen ihrer Familie gegenüber zu haben. Bei der 10-Jahres-Perspektive schlägt ihre Stimmung jedoch um. Sie hat vor Augen, wie sie neidisch ist auf ihren Mann, der gerade Abteilungsleiter in seiner Firma geworden ist, und wie sie ihre Kinder anmeckert, weil denen noch die ganze Welt offen steht, während sie das Gefühl hat, auf der Strecke geblieben zu sein. Dieses Bild findet sie so gruselig, dass sie beschließt, ihren Mann zu bitten, sie noch mehr zu entlasten, solange ihr Sohn noch nicht im Kindergarten und die Kleine noch nicht in der Krippe ist. Der ist zunächst wenig begeistert, läst sich aber durch die farbenfrohe Schilderung ihrer 10-Jahres-Perspektive überzeugen, einen Termin bei seinem Chef zu machen, um über ein 70-Prozent-Modell zu verhandeln. Mit diesem Ausgang hätte meine Freundin nie gerechnet. Seit Wochen fühlte sie sich zwischen ihrem Bedürfnis, für die Kinder da zu sein, und dem Wunsch, im job halbwegs am Ball zu bleiben, zerrieben wie zwischen Mühlsteinen. „ Ich wäre komischerweise nie auf die Idee gekommen, mit meinem Mann darüber zu reden“, sagt sie.
Anscheinend hilft einem die 10-10-10-Strategie nicht nur dabei, sie zu entscheiden und diese Entscheidung anderen verständlich zu machen – sie ist auch eine sehr gute Methode, um auf ganz neue Lösungswege zu kommen. Außerdem findet man dadurch, das man Bilder aufsteigen lässt und sich Szenen in der Zukunft ausmalt, mehr über seine unbewussten Wünsche und Befürchtungen heraus, die für unser Lebensglück ja entscheidend sind.
Was wäre passiert, hätte ich vor einem Jahr die 10-10-10-Regel auf die Frage „Soll ich mich von meinem Freund trennen?“ angewendet? Ich mache den Test: In der 10-Minuten-Perspektive hätte ich mich am Boden zerstört gesehen, nach 10 Monaten immer noch verletzt und enttäuscht, in 10 Jahren aber mit einem Mann, der ganz anders ist. Mit dem ich viel lachen und mich entspannt unterhalten kann, der bei mir ist, und das sichtlich gern. Getrennt habe ich mich damals auch ohne diese Version – jedoch begleitet von großen Zweifeln, ob ich das Richtige tue.
10-10-10 ist zum Glück auch tauglich bei weniger dramatischen Entscheidungen. Neulich saß ich eine Viertelstunde ratlos in einer Umkleidekabine fest, bekleidet mit einem sehr teuren Oberteil, in dem ich mich umwerfend fand. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich knietief im Dispo stehen, dafür aber extrem gut gekleidet. Ich stellte mir vor, was in 10 Minuten wäre, wenn ich mit der tüte unterm Arm das Geschäft verlassen würde. Ich spürte dieses ungute Magendrücken, das ich habe, wenn ich einem Konsumrausch erliege. Dann sah ich mich, wie sogar noch nach 10 Monaten Komplimente für das tolle Oberteil bekomme. 10 Jahre später konnte ich es zwischen all den Sachen, die ich bis dahin besitzen würde, nicht mehr im schrank finden. Unschlüssig machte ich die Gegenprobe, stellte mir vor, wie ich ohne große Tüte und ohne Magendrücken das Geschäft verlassen würde. Es fühlte sich sehr gut an. Erwachsen, vernünftig, weniger neurotisch. Das war´s dann. Ich habe das seidenweiche Fähnchen mit dem bleischweren Preisschild zurückgehängt und fand es noch nicht einmal schlimm.
Natürlich ist die 10-10-10-Methode kein Allheilmittel und meine Angst vor Entscheidungen nicht komplett verschwunden. Aber wenn jetzt eine von ihnen ins haus steht, mache ich die Tür auf, sage: „Komm rein, setz dich, nimm die nen Keks“ und frage mich erstmal, was wohl in 10 Minuten, 10 Monaten oder 10 Jahren passieren könnte, wenn ich mich auf sie einlasse.
Maja Sulejmanpasic